Verstecken gilt nicht!
Eine kleine Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Oldenburg
AUF SPURENSUCHE
Zeitreise durch Oldenburg
Wir sind im Jahr 2015: Lesben und Schwule leben gern in Oldenburg. Die meisten haben sich geoutet. Homosexualität ist normal.
Für manche von ihnen ist Oldenburg ein Eldorado.
Aber die Zeiten waren nicht immer rosig. Wer nachfragt oder in alten Zeitungen liest, stößt auch auf Geschichten von Diskriminierung und Gewalt.
Wir sind zurückgereist bis in die 80er-Jahre. Wir haben mit Menschen gesprochen, die damals nach Oldenburg kamen, und in Archiven recherchiert.
Wie wurde Oldenburg zu dem, was es heute ist: ein Ort, an dem Toleranz wirklich gelebt wird?
Wir schauen, welche Menschen und Vereine in Oldenburg die Lesben- und Schwulenbewegung vorangebracht haben. Wir blicken auf die Geschichte des CSD Nordwest zurück. Wir schlagen auch dunklere Kapitel auf und erfahren, wie HIV und Schwulenhetze die Menschen verunsicherte.
Barbara Meißner an ihrem Schreibtisch im Reisebüro "Horizont Reisen" (Bild: Wolter).
In Wilhelmshaven war wenig los für Lesben“, erzählt Barbara Meißner, an ihrem Schreibtisch im Oldenburger Reisebüro „Horizont“ sitzend. Es gab damals nur eine Szenekneipe. Die heute 59-Jährige beschloss, nach Oldenburg zu ziehen. Wegen der Arbeit. Und wegen der Szene. Sie wuchs in Wilhelmshaven auf, lernte bei der Stadtverwaltung, arbeitete zehn Jahre dort.
„In Oldenburg war das Angebot größer und auch die Sichtbarkeit von Lesben und Schwulen höher.“ Das zog Barbara Meißner - wie auch eine „ganze Gruppe“ anderer lesbischer Frauen - hierher.
Sie, damals in ihren 20ern, war fasziniert von der studentischen Atmosphäre der Stadt. Sie machte die Z-Prüfung, mit der man auch ohne Abitur an der Hochschule zugelassen wurde, und engagierte sich im Verein „Frauen lernen gemeinsam“, der bis 2005 existierte.
„Der Verein war wie eine kleine VHS“, sagt Meißner, „ein autonomes Projekt, für das vor allem Lesben arbeiteten.“ Er richtete sich aber genauso an heterosexuelle Frauen. „Ich glaube, lesbische Frauen hatten - bundesweit - einfach nur mehr Lust sich zu engagieren." Vielleicht auch mehr Zeit. Sie hatten ja meistens keine Kinder.
Aber es gab auch lesbische Mütter. Denn damals outete sich längst nicht jede. Einige verlobten sich, heirateten, waren Ehefrauen. „Andere lebten mit niemandem zusammen“, erzählt Meißner. Litten heimlich. „Ich kenne auch Fälle, in denen Lesben sich umbrachten.“ Die betrachtet sie aber mit Vorsicht, denn man könne ja nie eindeutig sagen, was das Motiv für einen Suizid sei.
Beschimpfungen wie "Scheiß Lesben“ waren damals „Tagesgeschäft“. In der Einkaufszone, am Strand, überall. Zwar liefen beim ersten CSD 1995 viele Homosexuelle begeistert mit, aber Ärzte, Lehrer und andere, die sich wegen ihres Berufes nicht outen wollten, sahen nur vom Rand aus zu.
Meißner wusste schon lange, dass sie lesbisch ist, und sagte es bereits in den 80ern ihrer Familie. Verbale Angriffe gingen bei ihr „da rein, da raus“. „Damals ging es für uns vor allem darum, eigene Räume zu haben, ohne Männer zu sein.“ Ehe und Kinderwunsch waren nur vereinzelt Themen. Einen Rückzugsort boten die Partys im Alhambra, zu denen einige Hundert Frauen, auch aus dem Umland, einmal im Monat kamen.
1997 fing Meißner bei „Horizont“, einem lesbisch-schwulen Reisebüro, an. Homosexualität war hier damals ein Einstellungskriterium. „Es sprach sich schnell in der Szene herum, dass es ein geoutetes Reisebüro gibt“, erzählt Meißner. „Das war schon was Besonderes.“ Die Idee war, Reisen anzubieten, bei denen Homosexuelle unter sich sein, „auch mal am Pool herumschmusen“ konnten, ohne dass kleine Kinder in der Nähe waren. Denn das sah man gar nicht gerne.
„Jetzt ändert sich das etwas“, sagt Meißner. Von Anfang an buchten auch Heterosexuelle Reisen bei „Horizont“, das in der Kulturetage eröffnete und später an den Stau zog. „Allein von Lesben und Schwulen kann man nicht leben“, weiß Meißner. Insgesamt gebe es mehr Gay-Reisen, weil Schwule mehr verdienen als Lesben - ein Ungleichgewicht, das aber auf alle Frauen und Männer zutrifft.
Sie ist sich nicht so sicher, ob es keine Sprüche mehr gibt, wenn Frauen oder Männer Hand in Hand durch die Stadt laufen - und ob Diskriminierung in Oldenburg heute Geschichte ist.
Was nordisch-gemütlich begann, wurde schnell kämpferisch. Mit einem Teekränzchen hatte die Lesben- und Schwulenbewegung ihren Anfang genommen. Eher privat waren die Treffen der "Lamba-Teestube" in einem Raum der Aids-Hilfe in der Nadorster Straße. Das änderte sich 1985: Die Teekränzchen-Teilnehmer gründeten den Lesben- und Schwulenverein "Na Und". Klingt einfach, war aber nicht so.
Schon früh entstand die Idee eines Kommunikationszentrums für Lesben und Schwule. Die Hoffnung der "Na Und"-Mitglieder: Als Verein würden sie Räume von der Stadt bekommen. Jedoch stellte sich ihnen dabei eine Hürde in den Weg, denn das Finanzamt wollte die Gemeinnützigkeit von "Na Und" nicht anerkennen.
Da "davon auszugehen ist, dass weite Kreise der Bevölkerung der vom Verein beabsichtigten Förderung von Homosexuellen (...) ablehnend gegenüberstehen, ist nicht gewährleistet, dass der Zweck des Vereins den Gemeinnützigkeitsbegriff der Abgabenordnung erfüllt." (Zitat aus einem Brief des Finanzamtes Oldenburg, Quelle: Rosige Zeiten, Nr. 2)
Der Kampf war lang und zäh: Erst im September 1990, nachdem sich das niedersächsische Finanzministerium eingeschaltet hatte, durfte "Na Und" sich "Verein" nennen. Räume von der Stadt bekam er trotzdem nicht.
Sie organisierten Kulturveranstaltungen, Infostände, Schulaktionen, Ballnächte und schließlich die legendäre "Rosa Disco" im Alhambra. Seit November 1988 treffen sich dort immer am letzten Samstag im Monat Lesben und Schwule zum Tanz. Mit den Einnahmen finanziert sich der "Na Und"-Verein bis heute.
Zweimal im Monat trafen sich die "Na Und"-Mitglieder im "Alhambra" in der Hermannstraße oder bei "Beppo" in der Auguststraße.
Das erste Mal war ich furchtbar aufgeregt. Meine Hände schweißnass. Meine Stimme beinahe lautlos und mein Herz klopfte. Sitzt meine Edwin Louisiana (Jeans)? Und meine eigentlich klobigen Doc Martens, passt das überhaupt? Und dann natürlich: Wird auch SIE da sein? Und hoffentlich ist niemand da aus meiner friesischen Nachbarschaft. ("Manuela" 2003 in Rosige Zeiten, Nr. 89, über ihre erste Rosa Disco)
Discos, Cafés, eine Coming-out-Gruppe, die anonyme Beratung „Rosa Telefon“ – es tat sich viel für Homosexuelle in Oldenburg. Trotzdem fehlte etwas: eine regionale Informationsbörse und ein öffentliches Forum, um lokale, nationale und internationale Themen der Szene zu diskutieren. Eine Zeitung musste her. 1989 kam die erste Nummer des Lesben- und Schwulenmagazins "Rosige Zeiten" heraus, mit dem Untertitel "Nachrichten von drüben".
Schon im Vorwort der ersten Ausgabe von "Rosige Zeiten" wurde klar, dass es reichlich Informations- und Diskussionsbedarf gab - zum Beispiel über den Streit zwischen "Na Und"-Verein und Finanzamt. In „Rosige Zeiten“ lasen Lesben und Schwule über die Coming-out-Erlebnisse anderer und informierten sich über Termine in der Region und politische Diskussionen. Dazu gab - und gibt - es einen Anzeigenteil, Buch- und Filmtipps und satirische Beiträge wie dieser Text zur Frage „Was ist Heterosexualität?“.
Wie ensteht Heterosexualität? These 2: Kindheitstrauma: Ein schlimmes Erlebnis mit dem gleichen Geschlecht in der Kindheit kann die spätere Zurückweisung des eigenen Geschlechts zur Folge haben. Aus Angst vor dem gleichen Geschlecht sinkt das Verlangen danach ins Unterbewusste und kommt als heterosexuelle Neurose wieder zum Vorschein. (Auszug aus Rosige Zeiten, Nr. 2)
Der CSD ist für ihn jedes Jahr ein "Highlight": Cord Heinemann am Tresen der Herrensauna "K13" (Bild: Wolter).
Cord Heinemann, heute Geschäftsführer der Herrensauna K13 in der Klävemannstraße, eröffnete 1990 „mit gerade mal 20“ die Kneipe „Zwitscherstübchen“ am Bahnhofsplatz. Er wuchs in Elsfleth-Neuenfelde in der Wesermarsch auf, wo er bis heute lebt. In Oldenburg etablierte sich mit der „Rosa Disco“, dem „Alhambra“, der „Männerfabrik“ und Mottopartys gerade eine homosexuelle Szene. Auf dem Land war es anders. Heinemann sollte den Bauernhof seiner Eltern übernehmen.
Früh eine Institution in der Lesben- und Schwulenszene: das "Zwitscherstübchen" am Bahnhofsplatz (Bild: Wolter).
„Morgens habe ich Blumen ausgefahren, nachmittags bei meinen Eltern gearbeitet und abends in meinem Laden“, erzählt der Gastronom, heute in seinen 40ern. Seine Eltern wussten lange nicht, dass der Sohn schwul ist und eine Kneipe für Homosexuelle betreibt - bis plötzlich der Fußballverein Neuenfelde zur Tür hereinkam. Die Jungs wollten mal sehen, wo der Cord eigentlich arbeitet. „Ich habe es lange vor mir hergeschoben“, sagt er. „Aber jetzt war ich es meinen Eltern schuldig, es zu sagen.“ Bevor sie es über den Dorfklatsch erfuhren.
"Viele blieben mit ihrer Homosexualität damals im Verborgenen. Für sie war es undenkbar, zu Hause davon zu erzählen."
1990, als Heinemann sich in Oldenburg selbständig machte, gab es einen „harten Kern“ an Homosexuellen, die sich im Verein „Na Und“ organisierten und schließlich zusammen mit einer Bremer Gruppe den ersten Oldenburger CSD 1995 planten. „Viele blieben mit ihrer Homosexualität damals im Verborgenen“, sagt Heinemann. „Für sie war es undenkbar, zu Hause davon zu erzählen.“ Er erinnert sich noch gut an Männer, die sich aus Verzweiflung das Leben nahmen. Weil sie unglücklich mit einer Frau verheiratet waren.
Den ersten CSD planten die Oldenburger in den Kellerräumen des „Na Und“-Vereins. „Es war chaotisch“, sagt Heinemann. In größeren Städten wie Köln oder Berlin gab es damals schon die Demos. „Wir müssen so etwas auch in Oldenburg machen“, hatten er und zehn, fünfzehn weitere Leute sich gesagt. Sie hatten kein Geld, keine Unterstützung, nur ihr eigenes Engagement. „Wir rechneten mit ein paar Hundert Leuten. Es kamen aber viel mehr.“ Es gab nur einen Bierwagen, nur einen Wurstwagen - und meterlange Schlangen. „Ich habe damals beim Wurstverkauf mitgeholfen, weil so viel los war“, erinnert Heinemann sich mit einem Lächeln an wilde Anfangszeiten.
Es ging erst einmal darum, den Menschen zu erklären, warum es einen CSD gibt. „Viele wussten ja gar nichts darüber“, sagt Heinemann. Zweites großes Thema war HIV. „Aids spielte damals eine große Rolle.“ Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre, starben viele an der Immunschwächekrankheit. Ganze Vereine lösten sich auf, weil Aids vor allem unter 40- und 50-jährigen Männern ein Opfer nach dem anderen forderte.
"Wir waren damals oft auf Beerdigungen."
Auch Heinemann verlor Freunde und Bekannte. „Wir waren damals oft auf Beerdigungen.“ Auf diesen Beerdigungen, wenn die Familie des Toten dabei war, nahm manchmal niemand die Worte „schwul“ oder „Aids“ in den Mund. Beim Thema HIV mangelte es an Aufklärung. Einige hatten Glück, andere nicht. „Irgendwie dachte jeder, er würde es sowieso nicht kriegen“, meint Heinemann. Wer krank war, wurde gemieden, ausgegrenzt, war oft mit seinem Leiden allein.
Die CSD-Demo bezeichnet Heinemann als Oldenburger „Highlight“, bei dem sich das große Zusammengehörigkeitsgefühl unter den LGBTI zeigte. In den ersten Jahren sei die Demo kaum wahrgenommen worden, auch wenn sie schon damals durch die Innenstadt zog. Mal endete der Zug vor dem Schloss, mal am Pferdemarkt, mal am Prinzenpalais. „Wir wurden hin- und hergeschoben“, erzählt Heinemann. Jetzt endet die Demo schon seit Jahren auf dem Schlossplatz.
Frühling 1993: Das Interesse an "Na Und" wuchs, und damit stiegen die Mitgliederzahlen. Die Kellerräume der Aids-Hilfe in der Nadorster Straße platzten aus allen Nähten. Darum beschloss "Na Und", die Idee eines eigenen Kommunikationszentrums endlich umzusetzen.
So sieht es heute aus bei "Hempels": das Lesben- und Schwulenzentrum in der Ziegelhofstraße (Bild: Wolter).
Der Verein fand ein Haus in der Ziegelhofstraße. Was fehlte, war das Geld. Wie so oft in der Oldenburger Bewegung, löste sich dieses Problem durch die Initiative Einzelner: Das "Na Und"-Mitglied Hermann Neemann kaufte das Haus. Umbauten und Renovierungen waren nötig. Die Nachbarn wehrten sich aber gegen die Pläne. Sie drohten, gegen eine Baugenehmigung Widerspruch einzulegen. Jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Es gab zwar einen Baustopp und laut "Rosige Zeiten" auch "jede Menge behördliche Action". Doch schließlich lag die Baugenehmigung im Briefkasten.
Vor dem Einzug stand eine weitere Vereinsgründung: Der "Trägerverein für ein Oldenburger Lesben- und Schwulenzentrum" (TROLSZ) sollte die neuen Räume unterhalten und bewirtschaften, aber nicht nur. Der neue Verein erfüllte eine zweite, wichtige Aufgabe: die Unterstützung von Lesben und Schwulen, die mit HIV infiziert oder an Aids erkrankt waren. Im neuen Haus entstand neben Büro- und Gruppenräumen das Kneipencafé "Hempels". Es wurde am 11. Juni 1994 eingeweiht. Viele Lesben, Schwule und auch Vertreter von Stadt und Land kamen.
Nun ist das Zentrum also eröffnet und Rührung macht sich breit (bei Autorin) ob dieses echt historischen Moments. Immerhin wurde Na Und vor etwas mehr als neun Jahren gegründet mit der erklärten Absicht, ein Lesben- und Schwulenzentrum aus der Taufe zu heben. Und der Weg vom Hinterzimmer "Bei Beppo" über die Kellerräume in der Oldenburgischen Aids-Hilfe war doch relativ weit." (Rosige Zeiten, Nr. 33)
Den Umbau finanzierten die aktiven Lesben und Schwulen größtenteils selbst. Zuschüsse bekamen sie aus dem "Schwulentopf" (Rosige Zeiten) und dem Etat für Soziokultur, beides Förderungen des Landes Niedersachsen. Die Stadt Oldenburg beteiligte sich laut Verein daran nicht.
Nach und nach versuchten die Oldenburger LGBTI alle Lebensbereiche für sich zu erschließen. 1992 meldete sich der "Na Und"-Verein zum Kramermarkts-Umzug an. Mit einem rosa Prunkwagen wollten die Lesben und Schwulen durch Oldenburg ziehen, um CSD-Flair zu versprühen. Von der Stadt kam aber, nicht ganz überraschend, eine Absage. Der Verein dürfe nicht für sich werben. Doch "Na Und" blieb am Ball und verhandelte mit dem Ordnungsamt.
Warum bei uns Werbung ist, was bei einem Klöppelverein nicht Werbung ist, ist uns bis heute nicht klar. (Rosige Zeiten, Nr. 23)
Es lief auf einen Kompromiss hinaus, den die Lesben und Schwulen schweren Herzens annahmen. Sie konnten mitziehen, sollten für ihr Umzugsmotto aber nicht die Wörter "Lesben" und "Schwule" benutzen. Es blieb also bei "Selbstbewusst andersrum" statt "Lesben und Schwule selbstbewusst andersrum". Sie versprachen dem Ordnungsamt, dass sie den Festumzug nicht in eine Problemdemo verwandeln würden. Und schickten eine überarbeitete Bewerbung los.
Es kam wieder eine Absage.
Trotz weiterer Bemühungen und Hilfe der Grünen wurde es nichts mit dem rosa Prunkwagen. Der Umzug fand ohne Oldenburgs LGBTI statt.
Doch insgesamt ging es voran. Ob eine geoutete Kfz-Werkstatt oder eine lesbisch-schwule Ballnacht: Die überwiegend positiven Entwicklungen in Oldenburg strahlten in die Region aus. Nach und nach bildeten sich nun auch in kleineren Städten und auf dem Land "rosa Feten", Homosexuellen-Treffs und lesbisch-schwule Beratungsstellen.
Die Nullnummer der "Rosigen Zeiten" machte ihn auf den "Na Und"-Verein aufmerksam: Hermann Neemann (Bild: privat).
Hermann Neemann (50) erinnert sich an die Anfänge der Lesben- und Schwulenbewegung: "Es war eine euphorische und gleichzeitig höchst dramatische Zeit." Euphorisch, weil es vorwärts ging. Dramatisch, weil die ersten, meistens schwulen Aidskranken starben. Alle anderen hatten Angst, dass sie sich anstecken könnten.
"Aber beide Entwicklungen hängen zusammen", sagt Neemann. "Aus der verzweifelten Lage schalteten wir in den Kampfmodus um." Bei "Na Und" diskutierten sie heftig, ob sie sich demütig zeigen sollten - weil der HI-Virus durch Homosexuelle verbreitet wurde. Die Studenten in der Gruppe traten aber dafür ein, sich in der Öffentlichkeit gegen die Diskriminierung HIV-Positiver und Aidskranker einzusetzen. "Wir verstecken uns nicht mehr", wurde zum Motto der ersten Jahre.
"Gloria Gaynors 'I will survive' haben wir aus voller Inbrunst mitgesungen. Es ging immer ums nackte Überleben."
Hart diskutiert wurde oft. "Wir waren ein bunter Haufen mit vielen komplett verschiedenen Ansätzen", erzählt Neemann. Die Besonderheit in Oldenburg: Lesben und Schwule schlossen sich im Kampf gegen Diskriminierung zusammen - eine Kooperation, die laut Neemann selten klappte und die Schwule in anderen Städten mit großem Argwohn betrachteten.
In Oldenburg funktionierte die Zusammenarbeit jedoch. "Wir hatten eine große Schnittmenge, wir verstanden uns", sagt Neemann. Man habe auch nie verkannt, dass die Lesben unter doppelter Diskriminierung litten, also als Lesben und als Frauen benachteiligt waren.
Die lesbischen Mitglieder von "Na Und" bewahrten die Oldenburger auch vor einem schwerwiegenden Fehler. "Bei uns kamen im Verein auch Pädophile an", erinnert sich Neemann. Die Lesben hätten jedoch rechtzeitig vor diesen Leuten und deren Interessen gewarnt.
Schon in den frühen 80ern war Neemann öfters in der Kultdisco "Pulverfass" in der Kaiserstraße anzutreffen. 1988 zog er nach Oldenburg. Seine Heimat, das 160-Seelen-Dorf Borsum im Emsland, war ihm "zu eng" geworden. "Der Emsländer denkt immer erst darüber nach, was der Nachbar denkt, bevor er etwas tut." In Oldenburg war das anders, hier fiel es Neemann leichter, sich auszuleben, sein Leben in die Hand zu nehmen.
Er engagierte sich anfangs als einziger Nicht-Student bei "Na Und", hatte als Steuerberater auch ein Auge auf die finanziellen Belange des Vereins und kaufte schließlich das Haus, das zum Lesben- und Schwulenzentrum wurde. "Die ersten Schwulenkneipen hatten oft doppelte Samtvorhänge in den Türen und verhangene Fenster", erinnert sich Neemann. Damit man bloß nicht sah, wer drin war. Das Haus in der Ziegelhofstraße, eine alte Schlachterei, hatte riesige Schaufenster - und passte deshalb gut zum Vorsatz "Wir verstecken uns nicht mehr". "Darum stellten wir die Tische ins Schaufenster", sagt Neemann.
Heute ist er überzeugt, dass der Kampf um Gleichberechtigung in Oldenburg nur von unten, von den Lesben und Schwulen selbst, kommen konnte. "Wir waren stark genug, etwas für uns selbst zu machen", sagt Neemann. "Auf öffentliche Förderung waren wir nicht angewiesen." Die habe er für Kinder, Alte oder Menschen mit Behinderung immer als wichtiger erachtet.
2006 war Neemann Bürgermeisterkandidat für die Grünen und erzielte überraschend über 18 Prozent. "Die Reaktionen auf meine Kandidatur als offen Schwuler waren durchweg positiv", sagt er. Klaus Wowereits berühmte Worte "Ich bin schwul - und das ist auch gut so!" waren in aller Munde. Die anderen Kandidaten hätten sogar herumgefrotzelt, dass sie ja als Heterosexuelle einen Nachteil hätten. Mit Marion Rieken (parteilos) trat 2014 eine lesbische Kandidatin für die Grünen bei der Bürgermeisterwahl in Oldenburg an. So ändern sich die Zeiten.
Junge Männer, die mitten im Leben stehen, sterben. Wer das Lesben- und Schwulenmagazin "Rosige Zeiten" aus den 80er- und 90er-Jahren durchblättert, stößt immer wieder auf Todesanzeigen. HIV und Aids hatten Oldenburg erreicht. Auch hier zitterten viele Männer: Würde die "Schwulen-Seuche" sie treffen? Würden sie überleben? Nicht zufällig waren "Na Und" und Aidshilfe vor allem in den ersten Jahren nicht nur räumlich eng miteinander verbunden.
Einer, der in der Homosexuellen-Bewegung für seine Offenheit und Wortgewandtheit bekannt war, war Michael Sartorius. 1965 geboren, studierte er Sozialwissenschaften an der Universität Oldenburg und forschte dort zum Leben und Werk von Carl von Ossietzky. Er war Mitarbeiter bei den "Rosigen Zeiten" und bei "Na Und" aktiv. Er war einer der wenigen, die auch mit ihrer HIV-Infizierung offen umgingen.
Michael war ein sympathischer und intelligenter Gesprächspartner. Am Anfang hatte ich eine kleine Hürde zu überwinden: die Scheu vor seiner Krankheit und dem Tod, die Angst mich nicht richtig zu verhalten und das Falsche zu sagen. Aber Michael begegnete mir in seiner ungebrochen natürlichen Art, und das half mir sehr schnell, die hinderlichen Gefühle zu überwinden und frei mit ihm zu sprechen. Ich spürte, dass er sich einen normalen Umgang wünschte, so wie früher, aber ohne Tabuisierung seiner Krankheit und des Todes. (Ein Freund über Michael Sartorius, Rosige Zeiten, Nr. 47)
Sartorius sah für sein Leben als Aids-kranker schwuler Mann in Oldenburg gegenüber einem Großstadtleben Vor-, aber auch Nachteile. Durch die persönlichen Kontakte und kurzen Wege sah er sich gut versorgt. Das provinzielle Denken schweiße alle "außerhalb Stehenden" eher zusammen. Aber er fühlte sich auch unter Druck gesetzt, weil die Schwulenszene seiner Meinung nach HIV und Aids völlig ausblendete. Viele HIV-Positive lebten auch innerhalb der Szene versteckt.
Sartorius kritisierte, dass es zwar eine HIV-Schwerpunktpraxis in Oldenburg gab, diese aber nicht als solche zu erkennen war. Er stellte fest, dass man ihn im städtischen Krankenhaus zwar gut behandelte, aber er den Grund seines Aufenthalts vor den anderen Patienten verschweigen sollte. "Mir scheint manchmal, die Menschen in Oldenburg werden unterschätzt in dem, was ihnen zugemutet werden kann", schrieb er in "Rosige Zeiten". Er schätzte Menschen, die normal mit ihm umgingen, "auch wenn es sie zum Teil Zweifel und Überwindung gekostet haben mag".
Mit meinem offenen Leben in Oldenburg habe ich gute Erfahrungen gemacht. Auch so ist Oldenburg. (Rosige Zeiten, Nr.48)
Die neuen Therapiemöglichkeiten kamen für ihn zu spät: Michael Sartorius starb am 24. September 1996 mit gerade mal 31 Jahren an den Folgen von Aids. 2003 wurde von Hermann Neemann, dem TROLSZ- sowie dem "Na Und"-Verein eine Stiftung ins Leben gerufen und nach ihm benannt. Die Michael-Sartorius-Stiftung dient seitdem vor allem dem Erhalt des Lesben- und Schwulenzentrums in der Ziegelhofstraße, an dessen Umbau auch Sartorius so maßgeblich beteiligt war.
Viele Homosexuellenvereine litten stark unter der Aidskrise - weil ein Mitglied nach dem anderen starb. Einige beendeten ihre Arbeit. Der "Na Und"-Verein überstand diese schwierige Zeit.
Eine Welle der Homosexuellen-Hetze schwappte Ende der 80er-/Anfang der 90er-Jahre auch nach Oldenburg über. Es mehrten sich Berichte und Gerüchte von Überfällen auf Lesben und Schwule in Parks und auf dem Heimweg von Homosexuellen-Treffs. "Die Mehrheit tuckt unbehelligt durch die Stadt" ist in "Rosige Zeiten" nachzulesen. Aber Einzelnen ging es an den Kragen.
Bild: dpa
Lebensgefährlich verletzt wurde ein 15-jähriger Junge 1990 bei einem Überfall auf der Nadorster Straße. Ein 32-Jähriger hatte ihn und seinen 16-jährigen Freund mehrmals als "schwule, perverse Säue" beschimpft. Dem 15-Jährigen schlug er mit der Faust ins Gesicht und stach mit einem Taschenmesser zu. Passanten beobachteten den Vorfall. Niemand aber half dem schwer verletzten Jungen und seinem Freund.
"Das Schwulenklatschen war damals in", berichtet Hermann Neemann. Im Cäcilienpark trafen sich Männer zum "Klappensex". Das war bekannt und bot eine offene Angriffsfläche für gewaltbereite Schwulenhasser, ausgerüstet mit Baseballschlägern oder Schlagstöcken. Doch die Szene reagierte: Im März 1993 gründete sich aus verschiedenen Oldenburger Schwulengruppen das Bündnis "Gewalt gegen Schwule? Nicht mit uns!".
Beteiligt waren das Schwulenreferat im ASTA der Universität, "Na Und", Aids-Hilfe, Männerfabrik und das "Zwitscherstübchen". Das Bündnis richtete ein Notfall-Telefon ein, ließ sich von Polizei und einer Psychologin beraten und organisierte einen Selbstverteidigungskurs. Eine Patrouille, um die Parkgegend abzusichern, war in Planung.
Im März 1997 trat eine Gruppe von jungen Männern am Cäcilienpark auf einen Schwulen ein. Sie beschimpfen ihn mit "Du schwule Sau", die Tritte wurden heftiger. Als er verletzt am Boden lag, hielt niemand an, um ihm zu helfen. Vor seinem Haus lauerten seine Peiniger ihm noch einmal auf und schlugen auf ihn ein. Er erlitt eine Nasenbeinfraktur und musste operiert werden.
Auch im Februar 1999 kam es nach der Frauendisco vor dem Alhambra zu einem Überfall. Fünf Männer aus dem rechtsradikalen Umfeld schlugen diesmal zwei Frauen zusammen. In der Notaufnahme des Krankenhauses hieß es: "Alles nicht so schlimm." (Rosige Zeiten) Ein Augenarzt diagnostizierte aber vier Risse in der Pupille und einen Knochenbruch unter dem Auge. Wegen der Gefahr bleibender Sehstörungen wurde die eine Frau operiert. Ganz klar war hier nicht, ob der Überfall ein Schlag gegen lesbische Frauen oder die linke Szene sein sollte.
Im Cäcilienpark zückten im gleichen Jahr zwei Männer ihre Messer, als ein Schwuler nicht auf die Avancen ihrer Freundin einging. Sie behaupteten, er habe die Frau beleidigt. Die Männer verfolgten ihr potentielles Opfer, das hatte jedoch Glück: Die Polizei war in der Nähe und nahm die Angreifer fest.
"Es gab damals eine berechtigte Empörung über die Übergriffe", sagt Neemann. Auch aus dem Umfeld des Vereins fielen Männer den Angreifern zum Opfer. Nach einiger Zeit flaute die Welle der Gewalt ab. "Auch weil die Parks längst kein Thema mehr sind." Internetportale bieten heute verlässlichere Verabredungsmöglichkeiten zu schnellem Sex.
Oldenburgs Schwule und Lesben wehrten sich allerdings auch aktiv gegen Diskriminierung. Und zwar völlig gewaltfrei.
So erteilte ein Oldenburger Steh-Café 1990 zwei Lesben, die dort öffentlich Zärtlichkeiten ausgetauscht hatten, ein Hausverbot wegen Schmusens und Küssens. Daraufhin organisierten rund 20 Lesben das "1. Oldenburger Kiss in", ein öffentliches Küssen in dem Café.
"Die Resonanz war im großen und ganzen recht positiv", ist in "Rosige Zeiten" nachzulesen. Die Verkäuferinnen riefen jedoch die Polizei. Die gab grünes Licht für die Aktion. "Und geküsst werden durfte bis in alle Ewigkeit bzw. bis Ladenschluss", heißt es in in der Zeitschrift.
Ähnliches passierte am Gründonnerstag 1993 in einer Oldenburger Disco. Zwei Männer küssten sich und zogen damit den Zorn der Besitzer auf sich. Als sie nicht aufhörten, wollten die Betreiber die verliebten Männer vor die Tür setzen. Doch solidarisierten sich andere Schwule, aber auch Heterosexuelle mit den beiden, sodass die Besitzer sie schließlich in Ruhe ließen. Als die Eigentümer sich aber auch im Nachhinein und auf einen Brief des Schwulenreferates im Asta nicht entschuldigen wollten, folgte in der Disco das "2. Oldenburger Kiss in". 30 lesbische und schwule Paare knutschten los. Man ließ sie gewähren.
Bei Cord im Zwitscherstübchen ist Volksfeststimmung angesagt, der Wagen der Männerfabrik beschallt den Bahnhofsplatz mit Discosound. Passanten bleiben stehen und wundern sich, eine ältere Dame wünscht uns lächelnd viel Spaß. Schließlich soll der Zug in die Kaiserstraße formiert werden, 11 Motorräder bilden die Spitze. Hinter uns geht die Post ab. (1995, Rosige Zeiten, Nr. 39)
Improvisiert" und "spontan": So beschrieb Cord Heinemann den ersten Oldenburger CSD aus heutiger Sicht. Viele Lesben und Schwule waren damals überrascht und überwältigt von der großen Resonanz. "Von wegen Oldenburger Käse. Das war allererste Sahne", zitierte "Rosige Zeiten" die Zeitung "taz". Schätzungsweise 800 Menschen demonstrierten am 24. Juni 1995 unter dem Motto "Gemeinsam sind wir unausstehlich" auf dem Schlossplatz. Bemerkenswert: Auch viele Frauen, bei den meisten CSD eher rar vertreten, zogen durch Oldenburg.
Zunächst sollte der Oldenburger CSD sich mit dem in Bremen abwechseln. Doch schon beim zweiten Mal versammelten sich hier rund 2000 Demonstranten auf dem Schlossplatz. "Na Und" und TROLSZ organisierten die Demonstrationen. 1997 übernahm der neu gegründete Verein "LuST" die Regie. "Damit fing mein politisches Engagement an", erzählt Klemens Sieverding (58), der seit 1987 in Oldenburg wohnt.
Sieverding hatte Bakum im Landkreis Vechta verlassen, weil er als schwuler Mann lieber in einer Stadt leben wollte. Er gehört zu den "LuST"-Gründungsmitgliedern und hat den CSD bereits 18-mal mitorganisiert. Blickt er auf die letzten 30 Jahre zurück, erinnert er sich an viele Erfolge und einige Rückschläge.
Vor allem ein Erlebnis ist ihm stark in Erinnerung geblieben: der erste CSD auf dem Pferdemarkt. 2006 musste die Demonstration wegen Bauarbeiten auf dem Schlossplatz dorthin verlegt werden. "Das war eine logistische Herausforderung", sagt Sieverding, denn vor der CSD-Abschlusskundgebung fand an gleicher Stelle der gut besuchte Wochenmarkt statt. Erschreckender seien in diesem Zusammenhang die Reaktionen der Marktbesucher gewesen. Diese hätten sich beim Einkaufen und Parken durch den CSD-Aufbau gestört gefühlt.
Auf dem Pferdemarkt zeigte sich aber massiv, was einige Oldenburger von Lesben und Schwulen hielten. Sieverding: "So schlimm bin ich noch nie angeschimpft worden." Es ist ihm heute noch unangenehm, darüber zu sprechen. "Muss man in Oldenburg erst schwul werden, um parken zu können?", war einer der harmloseren Sprüche. Die anderen will Sieverding nicht wiederholen. "Die gingen eindeutig unter die Gürtellinie." Beim zweiten CSD auf dem Pferdemarkt lief es besser, es gab weniger Beschimpfungen. "Aber ich war unheimlich angespannt."
In den ersten Jahren ging es immer wieder darum, einen Platz für die Abschlusskundgebung zu bekommen. Die Ordnungsbehörde sei oft sehr verhalten gewesen. "Sie hat nur das Nötigste erlaubt", sagt Sieverding. Einmal hieß es, der Schlossplatz sei belegt. "Das war aber nicht so", erinnert Sieverding sich. "An dem Samstag war auf dem Schlossplatz gar keine Veranstaltung."
Im Laufe der Jahre zog die Parade im Ring um die Innenstadt, später mitten durch die Fußgängerzone. "Das war ein Meilenstein für die Entwicklung des CSD", sagt Frederick Schnittker (50), der sich auch im LuST-Verein engagiert. Ihn hatte 1995 die Liebe nach Oldenburg verschlagen. Die Lesben und Schwulen standen für einen Tag im Mittelpunkt, Passanten waren gezwungen stehenzubleiben, keiner kam mehr um die Parade herum. Dabei geschah die Verlegung aus einem praktischen Grund: Der Verkehr um die Innenstadt sollte weiterfließen. Erst nach der Loveparade-Katastrophe 2010 in Duisburg wurde das Zentrum aus Sicherheitsgründen wieder ausgeklammert.
In den ersten Jahren hatten sich Leute von der Demo abgewandt und geschimpft. Vonseiten der Kaufleute gab es Widerstände, die Veranstaltung störe Kunden. Einmal protestierte eine freikirchliche Jugendgruppe mit Parolen und Bildern heterosexueller Paare gegen den CSD. "Sind die alle schwul?", fragten Kinder am Anfang. "Jetzt winken die meisten Leute", berichtet Sieverding. "Und die Kinder feiern mit." Die Kaufleute hätten im Laufe der Zeit verstanden, dass die Parade Geld und zum Teil auch einen Imagegewinn in die Kasse spiele. 2014 organisierte das City Management Oldenburg zum ersten Mal den "Rosa Samstag" in der Innenstadt.
"Auch die Politik vor Ort musste erst aufgeweckt werden", sagt Frederick Schnittker. Zwischen Stadtverwaltung und Organisatoren gab es immer wieder Irritationen und Diskussionen. Einige Ratsfraktionen waren früh dabei und sind es bis heute. Andere sparen sich den CSD.
Viel Kritik gab es in "Rosige Zeiten" an Ex-Oberbürgermeister Jürgen Poeschel. An seiner Stelle begrüßte mehrmals die zweite Bürgermeisterin Hiltrud Neidhardt am CSD die Lesben und Schwulen im Rathaus. Auch zog Poeschel den Zorn der damaligen Sozialministerin auf sich, als er bei der Eröffnung einer Ausstellung über die Schwulenbewegung im Oldenburger Kulturzentrum PFL an der Peterstraße fehlte. Neidhardt hatte offenbar nur durch Zufall von der Veranstaltung erfahren. Stattdessen wollte man jemanden vom Gesundheitsamt vorbeischicken. Das kam bei den LGBTI gar nicht gut an. Neidhardt kam der Einladung schließlich nach und kritisierte deutlich, dass so wenige Gäste im Saal saßen.
Aus heutiger Sicht betrachtet Hermann Neemann Poeschels Berührungsängste als "normal". Es sei eine andere Zeit gewesen. "Wirklich enttäuscht waren wir aber von Dietmar Schütz." Der ehemalige Oberbürgermeister habe sich im Wahlkampf bei den Lesben und Schwulen der Stadt "eingeschmeichelt" und sie dann "eiskalt fallen lassen". Zur Gründungsfeier der Michael-Sartorius-Stiftung kam aber auch Schütz und würdigte die Arbeit des Zentrums.
Dass der damalige Oberbürgermeister Gerd Schwandner bei der Parade mitging, obwohl er zunächst angepöbelt worden sei, rechnen Schnittker und Sieverding ihm heute noch hoch an. "Er hat sich was getraut und er hatte eine Vision", sagt Sieverding. "Ein Teil dieser Vision war Oldenburg als offene Stadt." Oldenburg als Anziehungspunkt für Lesben und Schwule: Seiner Meinung nach habe Schwandner auch erkannt, dass diese Offenheit und Urbanität wirtschaftliche Möglichkeiten birgt.
"Die Situation war von der Stadtspitze abhängig", sagt Schnittker. "Die Oberbürgermeister präsentierten sich in der Hinsicht sehr unterschiedlich."
Kritik gab es an LuST, als der Verein 1998 und 1999 statt des zentralen Schlossplatzes den eher abgelegenen Hafen als Ort für die Abschlusskundgebung wählte. "Warum geht ihr freiwillig aus dem Zentrum, war der Vorwurf", erinnert sich Sieverding. "Eine durchaus berechtigte Kritik." Schließlich wollten die LGBTI auf sich aufmerksam machen und einen Tag lang im Mittelpunkt stehen.
Schon in den ersten Jahren kamen über 10.000 Menschen zum CSD. Manchmal war sogar von 20.000 die Rede. Die Demonstration mit so viel Publikum und einem Kulturprogramm auf die Beine zu stellen, wurde zum finanziellem Balanceakt - zumal das Land Niedersachsen 2003 die Zuschüsse wegen der desolaten Haushaltslage einfror. "Uns standen oft die Schweißperlen auf der Stirn", sagt Sieverding. "Aber es ist immer gut gegangen." Die Themen änderten sich mit der Zeit. "Früher waren wir breiter aufgestellt", sagt Sieverding. "Heute legen wir Schwerpunkte." Homophobie in den Schulen, im Job und in den Vereinen, besonders im Sport, sind die Themen des CSD 2015.
Die LGBTI weltweit und die in Oldenburg haben die meisten Ziele erreicht. Sie sind, Adoptionsrecht und Ehe (noch) ausgenommen, nahezu gleichberechtigt. Im Laufe der Jahre kamen Zweifel an der politischen Botschaft des CSD auf. War die Parade zur Party verkommen? Ist der Christopher Street Day überhaupt noch nötig?
"Brauchen wir den CSD Nordwest eigentlich noch?", fragte auch Kai Bölle, Pressesprecher des LuST-Vereins in "Rosige Zeiten" (Mai/Juni 2015, Nr. 157) und gibt gleich die Antwort: "Ja! Ganz klar und unmissverständlich Ja."
Ein CSD ist nicht nur für die Stadt da, in der er stattfindet. Ein CSD strahlt darüber hinaus.
Der CSD gibt Mut, nicht alleine zu sein. Das Internet ist zwar ein tolles Fenster zur Szenewelt, aber halt doch nur ein virtuelles Fenster.
Der CSD Nordwest darf sich mittlerweile auch Geburtshelfer nennen. Das was Köln und Berlin für die Republik waren, sind wir für den Nordwesten. Cloppenburg und Aurich tragen unseren Bemühungen sichtbar in die ländlichen Gegenden.
Die Köpfe der Menschen zu erreichen, ihre Einstellungen, ihre Ängste und Vorurteile abzubauen, das ist die Herausforderung der nächsten Jahre.
Angekommen in der Gegenwart
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